No Surrender - Alfsee Twentyfour


Es sollte das letzte große Ding werden. Noch einmal 24 Stunden Rundenhatz - dann wird endgültig mit dem ganzen Zirkus Schluß sein. Am 4. Mai 2024 will ich mit ein paar allerletzten Rennrunden am Alfsee meinen 45. Geburtstag nachfeiern und meine "Radsportkarriere" beenden - soweit der Plan!

Meine treuen Leser wissen: Mein Trainingsstand ist in jedem Jahr katastrophal. Es gab in den letzten 15 Jahren noch keine Rennteilnahme, auf die ich mich tatsächlich vorbereitet hätte.
So schlimm wie in diesem Jahr, war es allerdings noch nie. Der Winter war lang, nass und kalt. Die wenigen trockenen Momente erlebte ich ölverschmiert und auf dem Rücken liegend, unter meinem Auto.

Mit seit Anfang des Jahres gerade mal 135 Km Fahrleistung in den Beinen, bin ich nach Rieste gereist. 
Da trifft es sich ganz gut, dass ich in diesem Jahr ausnahmsweise nicht als Solofahrer, sondern im 4er Team auf die Strecke gehen werde; denn die Theorie besagt: Dann sind es nur sechs, statt 24 Stunden, somit weniger zu absolvierende Runden und folglich weniger körperliche Belastung. Klasse...
Die Theorie besagt natürlich auch, dass dann ein deutlich höheres Tempo zu fahren sein wird. Aber solche nebensächlichen Realitäten lassen sich natürlich hervorragend ausblenden - auch gut...

Das dieses Wochenende unter keinem guten Stern zu stehen schien, zeichnete sich bereits vier Tage zuvor ab, als Moritz krankheitsbedingt ausschied. Gute Besserung an dieser Stelle.
Mit Marco ließ sich zum Glück zwar kurzfristig Ersatz auftreiben, doch der nächste Rückschlag sollte nicht lange auf sich warten lassen.


Es ist Samstag Morgen zehn Uhr, als Dirk, neben Marc der Vierte im Bunde, äußerst mies gelaunt am Alfsee eintrifft. Seine Freundin liegt daheim krank im Bett und macht ihm via Whats App ziemlich die Hölle heiß, weil er lieber Radfahren, als sie pflegen will. Irgendwie kann ich ihn sehr gut verstehen. Früher haben Männer die Drachen noch erschlagen, heute lassen wir sie bei uns einziehen - wer denkt da nicht an Flucht?
Und dennoch: Obwohl es echte Liebe bekanntlich nur unter Männern gibt, zieht er es vor, unmittelbar wieder abzureisen.

Da stehen wir nun ziemlich doof da. Auch, weil Dirk ursprünglich am Sonntag unseren Team-Anhänger zurück ins Headquarter nach Radevormwald bringen sollte.
Fieberhaft wird nach einer Lösung gesucht, die wir vorerst aber nicht finden können. So starten wir eben zu Dritt in der Vierer-Wertung, was unsere Chancen auf eine halbwegs vorzeigbare Platzierung auf weniger als ein Nichts eindämpft.


Marc geht als Erster auf die Strecke und legt direkt zwei Respekt einflößende Rundenzeiten hin, an die ich - trotz Puls am Anschlag - nicht anknüpfen kann. 
Die Strecke empfinde ich dieses Jahr als körperlich deutlich fordernder als im letzten Jahr.
2023 war ich bei besten Wetterbedingung als Solofahrer unterwegs, und habe rund 200 Kilometer absolviert, die ich diesmal wohl kaum werde erreichen können. Denn heute ist es recht frisch und viel Regen angesagt; die Strecke durch vorrangegangene Regentage butterweich und ziemlich selektiv - einige Passagen werden dadurch technisch recht anspruchsvoll.
Das findet wohl auch Marco, der bei seiner ersten Runde bereits auf halber Strecke das Telefon aus der Trikottasche zieht und uns mitteilt, dass er diese zwar noch beenden, aber keine weitere Runde mehr absolvieren wird. Es ist ein Desaster. Selbst mit Engelszungen auf ihn einredend, gelingt es mir nicht, seine Kopfblockade zu lösen. 
Kurioser könnte ein Rennwochenend kaum laufen, verzwickter die Situation nicht sein; sollte man eigentlich meinen.

Doch weit gefehlt: Nach Marco´s Ausstieg treffen wir auf Flo, der eigentlich als Supporter für zwei Solofahrerinnen angereist war. Wir leihen uns bei befreundeten Teams eine Ausrüstung für ihn zusammen, lassen ihn anstelle von Dirk in die Startliste schreiben und schicken ihn auf die Strecke.
Flo ist nicht nur ein super Typ der gut ins Team passt, sondern auch ein starker Fahrer und Garant guter Rundenzeiten, und somit unsere letzte Hoffnung, das Rennen mit Anstand bis zum Ende fahren zu können.

Doch auch Flo muss bereits nach einer Runde mit Kreislaufproblemen die Segel streichen. Und so bleibt die Situation wie sie ist: Hoffnungslos!
Marc und ich beschließen, nur noch just for fun zu fahren - mehr scheint uns auch gar nicht möglich. Die rote Laterne, das nehmen wir uns vor, werden wir uns jedoch nicht anhängen lassen. Aktuell habe ich an der Erfüllung selbst dieser erniedrigenden Minimalzielsetzung so meine Zweifel. Inzwischen wurden wir bis auf Platz 29 durchgereicht. Bei nur 32 gemeldeten 4er Teams, wird die Luft da ziemlich eng.


Erfahrungsgemäß lässt meine Leistung zum Abend hin nach. Müdigkeit und Erschöpfung ziehen mir stets irgendwann den Stecker. Aufgrund der skurilen Ereignisse der letzten Stunden, steht es aber auch um die Motivation nicht zum Besten. Als ich dann auch noch eine unfreiwillige Bodenprobe nehmen muss, falle ich mental in ein richtiges Loch.
Jedes Jahr schwöre ich mir, dass ich mir diese Schinderei nie wieder antun werde. Jedes Jahr melde ich mich dann doch wieder an. Ich brauche diesen Schmerz und dieses Leiden. In solchen Momenten, wo der Kopf ausgeschaltet ist, der Alltag zu Hause in Vergessenheit gerät, sich das Leben einzig und allein auf die schmale Gasse zwischen dem Flatterband und auf den Trail unter den Reifen beschränkt, fühle ich mich lebendig, glücklich und frei. Normalerweise finde ich es also geil, mich bei einem solchen Rennen körperlich bis zur absoluten Erschöpfung in den Keller zu fahren.
Aber aktuell find ich gar nichts geil. "Jetzt ist Schluß! Hier und heute endet das ganze Theater. Nach dieser Runde hänge ich die Radschuhe an den Nagel", beschließe ich.


Aus der Heimat waren bereits einige anfeuernde Nachrichten eingetrudelt. Die zuckersüße Anja hatte mir schon vorab ganz lieb die Daumen gedrückt, meine Arbeitskollegen Baaschi und Hotte, und sogar mein Chef, sprachen mir wärend des Rennens auch immer wieder Mut zu.
Doch es ist tatsächlich Teamkollegin Lara, die mich wieder aufbauen kann. Sie verfolgt das Rennen ebenfalls von zu Hause aus.
"Ich solle stolz auf mich sein, denn sie wäre es auch", schreibt sie mir, und findet damit genau die richtigen Worte. Sie packt mich bei meiner Ehre und zieht mich daran wieder auf die Beine. Rückblickend bin ich ihr unendlich dankbar dafür - gefinisht zu haben, ist wohl in erster Linie ihr Verdienst.



Das ich direkt im Anschluß in der nächsten Runde erneut und ziemlich heftig stürze, mir zudem in der Nachtrunde auf halber Strecke die Beleuchtung ausfällt, passt zwar ebenso wenig ins Konzept, wie das ab 23 Uhr einsetzende Unwetter, kann mich jetzt aber nicht mehr aus der Bahn werfen. 
Den nächtlichen Sturzregen, der den Veranstalter über einen Rennabbruch nachdenken lässt, nutzen wir für die Regeneration. Marc ist es, der am Morgen bereits vor dem Frühstück wieder auf das Rad steigt. 
"Wir fahren nach wie vor Stints von 2 Runden. Wenn mein Plan aufgeht, kommst du zwischen 13:40 und 13:45 Uhr ins Ziel - dann lassen wir die Zeit bis Rennende um 14 Uhr einfach runterlaufen. Damit werden wir auf keinen Fall Letzter.", schlug er mit Blick auf die aktuellen Zwischenergebnisse vor, ehe er sich auf´s Rad schwang.

Was Marc nicht weiß: Ich hab bereits einen eigenen Plan, und der lautet: Ich lasse hier gar nichts runterlaufen, sondern werde mich im letzten Stint 3 Runden über die Strecke quälen. 
Es ist eine dumme Idee. Diese dritte Runde tut richtig weh. Die Muskeln sind leer und brennen völlig laktatübersäuert bei jeder Kurbelumdrehung. Bei jeder Bodenwelle habe ich das Gefühl, es würde mir jemand ein Messer in die beim Sturz lädierte Schulter rammen. Aber es gibt kein Zurück - das wird jetzt bis zum Ende durchgezogen. Und wie das mit dummen Ideen so ist - sie sind oft die besten. Bis auf Platz 19 schiebt uns diese allerletzte Runde in der Ergebnisliste nach vorn. 



Und als ich erschöpft über die Ziellinie rolle, spüre ich ihn auch, diesen Stolz.
Marc und ich haben geschafft, was wir uns selbst nicht zugetraut hätten - wir haben gefinisht. Wir haben tatsächlich den Alfsee 2024 zu Zweit in der 4er Wertung gerockt und uns dabei sogar noch recht gut platzieren können. Vor allem aber haben wir bewiesen, das nichts unmöglich ist, und das, egal wie wenig erfolgversprechend etwas sein mag, Kapitulation keine Option ist.



Nachtrag:
Wären wir in der 2er Wertung gestartet, wäre dies sogar ein siebter Platz gewesen. Als ich das registriere, ist der Ehrgeiz geweckt. Und ehe ich wieder ganz bei Sinnen bin, frage ich Marc, ob wir nicht 2025 im Zweierteam angreifen wollen?
Seine Antwort legt die Latte ziemlich hoch: "Ich bin dabei. Top Five sollte für uns auf jeden Fall machbar sein." 
Es wird also vorerst nichts für mich mit der Radsportrente.... ich geh dann jetzt mal trainieren!









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