Natur pur

Der Wetterbericht verspricht Sonnenschein und angenehme Temperaturen.
"Raus und ab aufs Bike" - das steht für diesen Sonntag somit fest. Die Frage wohin, stellt sich mir hingegen einmal mehr. Die umliegende Gegend kenne ich beinahe wie meine Westentasche.  Garmins Basecamp bestätigt mir am Desktop, dass ich so ziemlich alle Wege und Pfade in meiner Region bereits erkundet, zu Touren zusammengefügt und befahren habe. Den Gedanken mit dem Auto ein weiter entferntes Bikerevier anzusteuern, verwerfe ich schnell wieder. Ich wohne direkt im Herzen Stormarns und habe das Grün direkt vor meiner Haustür. Da soll ich, um Natur erleben zu können, mit dem Auto fahren?

Auch wenn die nachfolgenden Sätze sehr melacholisch und damit auf den ein oder anderen Leser verstörend oder befremdlich wirken mögen, mir steht heute der Sinn eher nach Flow. Ich befinde mich mental derzeit ohnehin in einer Situation, in der ich mehr Ruhe in mein Leben einkehren lassen möchte. Den hektischen Alltag mal auszubremsen und sich Zeit nehmen, etwas bewusst erleben und genießen, anstatt mit Druck, Drall und Geschwindigkeit durch das eigene Leben zu rauschen, um womöglich am Ende festzustellen, was man alles vor lauter Eile verpasst hat.

Flow versprechen generell die Wege im Duvenstedter Brook, so lautet mein erster Gedanke.
Der zweite: Genießen!
Was aber genießen?
Die Sonne, die Natur..und die Freiheit, beantworte ich mir die Frage selbst.
Der nächste Gedanke ist der, dass man viel zu selten bewusst genießt. Sonne, Natur und Freiheit.. viel zu selbstverständlich ist es uns, dass wir das erleben und erleben können. Viel zu selten nimmt man diese Dinge wirklich bewusst war. Und noch seltener denken wir wohl an die Menschen, für die diese Dinge eben nicht selbstverständlich sind.
Mein Ziel steht fest: Die JVA Glasmoor. Dort, mitten im idyllischen Naturschutzgebiet, leben Menschen eingesperrt, denen Freiheit verwehrt ist. Dort möchte ich heute hinfahren, dort innehalten und versuchen dankbar für Dinge zu sein, die mir stets als selbtsverständlich vorkommen.

Schnell ist am Rechner die Routenführung ausgearbeitet. Wenig Asphalt, viel Forstautobahn und einige Trails auf einer Streckenlänge von 75 Km, klingt nach einem vielversprechenden Mountainbike-Tag und so starte ich, nach einem ausgiebigen Frühstück, mehr als froh gelaunt.

Es geht anfangs auf Asphalt über Fischbek nach Elmenhorst. Vorbei an Bargfeld Stegen in Richtung Wiemerskamp, befinde ich mich schon lange abseits der Straßen. Auch Tangstedt und Wilstedt werden im Grün von Wald und Moor passiert. Herrlich ist es. Die Sonne wärmt mit angenehmen aber nicht zu warmen 19 Grad und wohin das Auge blickt, entdeckt es die jetzt zum Frühling erwachende Natur. Die ersten zartgrünen Blätter der Bäume und die ersten Gräser, die ihre Halme durch die vom Regen teils noch nasse Erde strecken und ein Orchester zahlreicher Vogelstimmen, lassen mich ein Rundum-zufrieden-Gefühl bekommen.

Ich habe leichten Rückenwind und der Streckenverlauf ist super. Leicht wellig im Profil, winden sich die gut befestigten Schotterwege durch die Natur. Nur selten wird die Strecke zum Wurzelfeld, was aber eine angenehme Abwechslung darstellt.


So matschig wie an der Booteinsetzstelle war es nur später im Moor nochmal

Bis zur Booteinsetzstelle bei Wulksfelde, wo mir trotz leerem Akku eines der wenigen Fotos der Tour gelingt, begegne ich nur wenigen und durchweg freundlichen Menschen. Zu abgelegen scheint die Strecke, obwohl sie mehrere Ortschaften tangiert. Ab Wulksfelde wird es schon etwas voller auf den Wegen. Die Nähe zur Großstadt soll etwas später noch deutlicher spürbar werden. Ab Duvenstedt, einem betuchten Hamburger Stadtteil, zieht es bei gutem Wetter nämlich stets viele und leider sich ihres Wohlstandes bewusste und sich dementsprechend verhaltende Erholungssuchende in den Wald. Wie aber bei jeder Tour zu beobachten, lichtet sich das Feld der motzenden High Society bereits wenige hundert Meter hinter dem letzten Parkplatz. Weiter schafft es der konsumverwöhnte Snob meist nicht von seinem Daimler weg.

Doch bevor ich zur Slalomfahrt zwischen Prada und Armani komme, erreiche ich zunächst einmal das eigentliche Ziel meiner Reise, die JVA Glasmoor, und erlebe dort mehrere, teils etwas ungewöhnliche Dinge, die mich sehr nachdenklich stimmen.
Zunächst betrachte ich den für unsere Zeit ungewöhnlichen Baustil der 1922 errichteten Anlage. Insbesondere der 22 Meter hohe Wachturm, der wohl hauptsächlich dazu gedacht war, entflohene Sträflinge in der Weite der umliegenden Moorfläche zu entdecken, sticht ins Auge. Wobei das Moor durch seine tückischen Eigenschaften des Ein- oder gar Versinkens eine Flucht ohnehin schwierig gemacht haben dürfte. Ich muss unwillkürlich an ein Hörspiel aus meinen Kindheitstagen denken, in dem es u.a. um einen im Morr entflohenen Sträfling geht. Vor meinem geistigen Auge hatte ich damals ein Gebäude gesehen, dass diesem hier nun mehr als ähnlich war.
Die JVA heute. Der noch bestehende Komplex steht unter Denkmalschutz
ursprünglich mit "Feuerglocke" zum Alarm bei Fluchtversuchen ausgestatteter Turm
Alte Aufnahme der JVA. Viel Freifläche sollte Flüchtenden wenig Deckung bieten. Heute rahmen Bäume die Gebäude ein.


Ruhig und verlassen scheint das Gebäude. Ich sehe keine Menschenseele und hören keinen einzigen Laut, obwohl ich genau weiß, dass dort Menschen leben, die Freiheit inzwischen ganz anders definieren dürften, als ich es bisher tat. Aber das Gefühl von Dankbarkeit oder innerem Frieden will grad nicht aufkommen. Es ist ein wenig unheimlich hier. Eine seltsame Stille umgibt mich. Nicht einmal Vogelstimmen sind zu hören. Obwohl mitten im idyllischen Grün, scheint an diesem Ort jeder Frohmut erloschen und einer drückenden Last gewichen.

Ich setze meinen Weg daher schnell in nördlicher Richtung fort. Nach einigen Metern begegnet mir ein Mann, an dessen Seite ein kleines Kind läuft. Tapsig und unsicher stapft es wacker neben seinem liebevoll verzückt dreinschauenden Papa her.
"Moin! Na, die ersten Schritte in die große weite Welt?", begrüße ich den Mann auf sein Kind blickend. Verschreckt schaut er mich, irgendwas leise nuschelnd, und mit dem Blick eines gebrochenen Mannes an. Erst nachdem ich an ihm vorbeigefahren bin, wird mir klar, dass der Mann ein Häftling des im Glasmoor praktizierten offenen Vollzugs gewesen sein muss, der sein Kind nur gelegentlich für ein paar Stunden sehen darf. Ich überlege zurückzufahren und mich zu entschuldigen, habe aber gleichsam das Gefühl, da etwas getroffen zu haben, wass auch Worte jetzt nicht kitten könnten. Ich tröste also mein schlechtes Gewissen ein wenig damit, dass er sicher nicht grundlos im Gefängnis sitzt und die Haftzeit und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten durchaus als Strafe empfinden soll. Und doch habe ich Mitleid mit diesem Kerl. Auch ich kann meine Tochter nur an den Wochenenden sehen und empfinde das als sehr schmerzhaft. Wie muss es da erst einem Mann gehen, der zudem noch inhaftiert ist?



Zum Glück bleibt wenig Zeit für schwermütige Gedanken. Der Boden wird tief und weich. Ich befinde mich nun mitten im Moor. Auf der Karte ist der Weg mit Kreuzen markiert. Am heimischen Desktop hielt ich es für  die Markierung eines aufgrund von Privatbesitz verhängten Betretungsverbots, dessen Widersetzung ich billigend in Kauf genommen hätte. Nun aber wird mir klar, dass die Kreuze als Gefahrenhinweis und Sperrung zu verstehen sind.
Bis weit über die Felge versinken die Reifen .. und es hat seit Tagen keinen Regen gegeben. Im Herbst wäre dieser Weg vermutlich ein großes Risiko - wenn nicht gar eine Todesfalle.
Umdrehen mag ich aber auch nicht. Ich würde wieder auf den Häftling und seinen verletzten Blick treffen. Und so kämpfe ich mich weiter durch den tiefen Morast und stelle mir die Frage, warum jemand Wege ins Moor anlegt, die man weder betreten darf, noch kann. Die Antwort liefert prompt ein verschlossenes Weidegatter, das den Weg kreuzt. Der Weg, wenngleich er in der Karte durchgehend eingezeichnet ist, dient lediglich dazu, Vieh auf die vereinzelnt im Moor stehenden Grasflächen zu treiben.

Tiere, die auf solchen Weiden stehen, dass weiß ich von einem befreundeten Tierarzt, sind meißt Robustrinder und werden als Ammenviecher bezeichnet. Wobei sie wenig mit der Gutmütigkeit einer Amme im herkömmlichen Sinn gemeinsam haben. Sie leben das ganze Jahr draußen, sind keine Menschen gewohnt und reagieren gern aggressiv.
Da ich aber keines der Tiere auf der weitläufigen Weide entdecken kann, werfe ich das Rad über das Gatter und springe todesmutig hinterher - direkt in einen frischen Fladen!
Mit mulmigen Gefühl im Bauch setze ich den Weg nach Norden fort, um schnell festzustellen, dass der Boden einfach zu morastig ist. Auch ist mir wegen der Tiere nicht wohl zu mute. Irgendwo müssen die Rinder ja stehen. Und als Hufabtreter eines Galloway will ich hier nicht in der Pampa enden.
Seltsame Landschaft. Weiter rechts grenzt die Weide an, worauf nach 50 m tödlicher Morast folgt

In östlicher Richtung wird die Weide von undurchdringlichem Moor eingegrenzt. Bleibt mir nur die Flucht gen Westen, um die Weide zu verlassen. Dort stehen Strommasten in einer völlig bizarren, hügeligen Sandlandschaft. Sie kann, da bin ich mir sicher, nur künstlich entstanden sein. Ich weiß es nicht mit Gewissheit, vermute aber, dass dort eine alte Kieskuhle oder das Relikt des bis 1965 betriebenen Torfabbaus mit Sand verfüllt wurde. Zumindest aber verspricht der Sand trockenen Fußes auf die naheliegende Bundesstraße zu gelangen. Die Hufspuren, die ich passiere, sind, genau wie die Exkrementhaufen, zum Glück schon etwas älter. Andernfalls hätten sie Anlass zur Sorge gegeben. Denn von Rindern stammen sie definitiv nicht. Es sieht aus wie Pferdeäpfel...allerdings müsste das Pferd dann in etwa so groß wie ein Kamel sein.

Oase genannte Wasseransammlung in einer Senke im Naherholungsgebiet Glasmoor


Als ich die Straße endlich erreiche, kann ich meinen Weg durch das Naherholungsgebiet Glasmoor Richtung Duvenstedt fortsetzen. Die Tankstelle an der Bundesstraße 432 hat zuvor den auftretenden Hungerast beseitigt, die Luxusklassewagen fahrenden Ausflügeler in Duvenstedt sind schnell vergessen und ich tauche bei Wohldorf-Ohlstedt in den Brook ein. Hier ist das Grün nicht ganz so unberührt, wie man es von einem Naturschutzgebiet erwarten würde. Viele Ausflügler machen den Brook eher zu einem Freizeitpark. Müll und Lärm inklusive. Diesem Hype auf diese Gegend geschuldet sind seit einigen Jahren teilweise Fahrverbote für Radfahrer und ein generelles Verbot für Hunde - eine unschöne Entwicklung, wie ich finde.

Je weiter man sich jedoch vom versnobten Duvenstedt und Woldorf-Ohlstedt entfernt, oder vielmehr von den diesen Orten naheliegensten Waldparkplätzen, desto ruhiger wird es wieder. Gelegentlich treffe ich auf Radfahren oder Wanderer. Auch Reiter lockt das gute Wetter auf die Reitwege. Mit vielen komme ich ins Gespräch. Schon allein aufgrund der Tatsache, dass ich mich stets rechtzeitig ankündige, wenn ich mich Pferden von hinten nähere. Mein Wissen und die Rücksicht darauf, dass Pferde schlecht nach hinten sehen können, als Fluchttiere aber schreckhaft sind und zum Ausschlagen oder Durchgehen neigen können, erstaunt die Reiter meistens, kommt aber stets gut an und führt oft zu manch netter Unterhaltung und eines gemeinsamen Wegstücks.
Eine der Reiterinnen heut scheint aber besonderen Gefallen an mir gefunden zu haben und lächelt mich unentwegt und diebisch in meinen Schritt guckend an. Da sie aber in etwa den gleichen Sitzknochenabstand wie ihr Gaul hat, verspüre ich wenig Interesse sie zu fragen, was sie an einem Mann in Lycra so toll findet. Außerdem spüre ich sowohl den stärker werdenden Gegenwind, als auch die bisher absolvierten Kilometer und bin schon arg angeschlagen. Zu sehr in jedem Fall, um jetzt an ein Rodeo mit diesem Brauereipferd zu denken. Ich sehe also zu, dass ich Land gewinne und fahre an Klein Hansdorf und Jersbek vorbei, den Stadtrand von Bargteheide kratzend nach Hause, um einen Tag voller bewegender, nachdenklicher und fröhlicher Erlebnisse für die Nachwelt festzuhalten.


P.S: Die Tour gefiel mir so gut, ich würde sie jederzeit wieder fahren, dann allerdings mehr Zeit mitnehmen, um mir auch das Museum anzusehen.




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