Night on Bike 2k21 mit MTB-Team Harveycom.it

"Degenerativer Knorpelschaden im Knie", lautet 2001 die Diagnose des Orthopäden, und "Besonders Treppensteigen sollten Sie unterlassen!", sein gutgemeinter Rat.
Seit jeher schlage ich diesen Rat in den Wind. Heute sogar mit Freuden. Denn heute darf ich mit dem
MTB-TEAM Harveycom.it auf´s Treppchen bei der Night on Bike 2021 in Radevormwald - die paar Stufen schaffe ich spielend!


Ich treffe nach sechsstündiger Autofahrt im Fahrerlager ein. Hermetisch abgeriegelt, kommt niemand auf das Veranstaltungsgelände, der nicht getestet oder geimpft ist. Das die Night on Bike überhaupt stattfinden darf, grenzt fast an ein Wunder - so richtig dran geglaubt hatte bis zum Schluss niemand. Erst drei Monate vor dem Termin erhielt Sven Schreiber, Chef von Hammer Events und Veranstalter des Rennens, die Zusage der Behörden. Die Durchführung - unter strengen Auflagen und nur bei entsprechenden Inzidenzwerten - stand lange auf der Kippe. Keine Zuschauer, keine Fahrerinterviews, keine Fahrt durch die Stadt, keine offenen Speisen und eine aufwendige Akreditierung aller Teilnehmer einschließlich eigenem Coronatestzentrum, sind nur einige der Auflagen, die Schreiber zu erfüllen hat.
Die NOB 21 wird zwangsläufig eine etwas abgespeckte Version dessen werden, was man aus den Vorjahren durchaus als eines der besten Rennen überhaupt kannte.

2020 hat die NOB nicht stattfinden können. Das bedeutet auch keinerlei Einnahmen für den Veranstalter. Nun muss er für die Ausrichtung eines Events in Vorkasse gehen, von dem er nicht weiß, ob es stattfinden wird. Ein mutiger Schritt - ein sehr mutiger. Doch Schreiber geht ihn.
Dabei hat er neben den behördlichen Auflagen noch ganz andere Schwierigkeiten zu meistern. Viele potenzielle Teilnehmer sind unsicher und hadern mit der Anmeldung.
Sanitäreinrichtungen und Absperrungen, Scheinwerfer und Stromaggregate, Sanitätspersonal und Sicherheitskräfte - all das wird derzeit anderswo zur Beseitigung der Flutschäden benötigt. Was verfügbar ist, steigt aufgrund der Nachfrage exorbitant im Preis. Der Spagat zwischen nur moderat steigenden Teilnahmegebühren und einer, eines solchen Rennens würdigen Equipment-Hardware, gelingt dann doch recht gut wie ich finde.

Nachdem ich das Teamlager erreicht und alle bereits Anwesenden begrüßt habe, werde ich vom Dieter auf ein Bier eingeladen, und auch das zweite schlage ich nicht aus. Schmeckt gut... leicht herb, schön kühl... einfach lecker. Hätte ich ahnen können, dass Harvey-Häuptling Sven Beckers noch eine erste Proberunde auf der völlig neuen und "technisch nicht unschönen" Strecke, wie er sich ausdrückt, einfordert?

Zusammen mit Julian wage ich mich ins Gelände. Mehr als 20 Jahre liegen Julian und ich auseinander. Ebenso trennen und mindestens 200 Watt Trittleistung - tendenziell eher mehr.
Die Schere des Leistungsvermögens zwischen unangefochtenem Star der Harvey´s und dem ungekrönten König der schlechten Rundenzeiten, könnte kaum größer sein... und leider auch kaum weniger deutlich sichtbar werden. Während er locker rollen lässt, schnaufe ich am Anschlag.

Das Bier muss wohl schon abgelaufen gewesen sein. Jedenfalls schäumt es plötzlich ziemlich stark. Zweimal schwappt es mir von unten gegen den Gaumen. Schmeckt plötzlich gar nicht mehr so lecker.
"Bloss nicht auf die Strecke kotzen", schießt es mir durch den Kopf, "schon gar nicht bereits bei der Proberunde!"

Die Strecke lässt sich im Grunde mit einem Wort beschreiben: Selektiv!
Ja, selektiv trifft es wohl am Ehesten. Rund 5,5 Km lang und mit 146 hm garniert. Viele, teils gemeine Anstiege. Kaum Flachpassagen und traillastig bergab - technisch tatsächlich anspruchsvoll - mit vielen von mir so gehassten Wurzelfeldern. Der Untergrund ist von staubtrocken bis schlammig tief. Eine Bodenbeschaffenheit, von der ich vorhersagen kann, dass sie sich mit jeder Runde ändern und die Erosion spätestens nach 8 Std. Rennbetrieb die ersten Sturzopfer fordern wird.

Selektiv, dieses Wort will mir bei meiner Rückkehr ins Fahrerlager nicht sofort einfallen. Ich versuche es daher zunächst mit einigen Umschreibungen. (Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften hat von Zitaten an dieser Stelle dringlichst abgeraten, Anm.d. Red.).
Aber mein Geschimpfe hilft nichts. Die Strecke bleibt wie sie ist... selektiv eben.

Selektion auch in der Aufstellung. Neben Teamfahrer Joshua, der nach schwerem Sturz seit letzter Woche die Rennsaison abhaken muss, scheiden drei weitere Fahrer aus. Sie allerdings sagen - nur wenige Tage vor dem Rennen -  urplötzlich ab und wechseln zu einem anderen Team.
Ich möchte mir hierzu an dieser Stelle kein Urteil bilden - das darf gern jeder selbst tun.
Die Situation ist aber nunmal gegeben und wir müssen darauf reagieren. Kurzfristig stellen wir komplett um.

Mit dem bärenstarken Michael Krölls, dem stets lächelnden Marc Droste und Publikumsliebling Sven Hielscher, stehen nun drei sehr erfahrene und ausdauernde Haudegen als Solisten für uns an der Startlinie.

Jan Hallbauer, Toni Reiprich, Thomas Pampel und Markus Thiel komplettieren zusammen mit Anna und Nils Brockmann das 6´er Team und sorgen für reichlich Stimmung.

Unsere schnellsten Fahrer, Julian Weber, Moritz Löns und David Koll werden von Maco Mandel, Karsten Ernst und Neuzugang Gideon Beschoner, sowie meiner Person ergänzt.
Die Bitte, unser Team auf acht Mann aufzufüllen, erreicht Fabian Gundermann erst wenige Stunden vor Rennbeginn. Er sagt sofort zu. Sportlich wie menschlich ein absoluter Zugewinn!


Meine erste Runde soll dann auch zugleich meine letzte sein. Freitag der 13, wirkt offenbar nach. Oder ist es sogar mein großes Glück es rechtzeitig zu bemerken? Zurück im Fahrlerlager stelle ich jedenfalls einen Rahmenbruch an meinem Bulls fest. Weiterfahrt unmöglich.
Ein Materialdefekt, insbesondere ein irreparabler, und ein damit verbundener Ausfall eines Fahrers, wirft oft alles über den Haufen. So früh im Rennen aber kommt es einer Katastrophe gleich. Lässt sich kein Ersatz für mein zerstörtes Bike auftreiben, muss eine neue Renntaktik her.
Wir beschließen zunächst planmäßig, aber eben mit nur sieben Fahrern weiterzufahren, bis wir eine finale Lösung finden. Diese Mehrbelastung wird nicht dauerhaft zu kompensieren sein.
Weiterhin wird aufgeregt Brainstorming betrieben. Gideon bietet an, dass wir uns sein Bike teilen. Ein größzügiges Angebot. Allerdings ist er erheblich kleiner als ich. Selbst wenn wir ständig die Sattelhöhe umstellen und die Startnummern ummontieren würden, wäre der Rahmen im Grunde zu klein.
Marco bietet, ebenfalls völlig selbstlos, sein Ersatzrad an. Der Hobel hat die richtige Größe. Das Problem: Das Rad steht im 80 Km entfernten Duisburg. Aufgeregt und emsig telefoniert Marco. Schließlich ist es seine Mutter - vielen lieben Dank an dieser Stelle - die sich ins Auto setzt, um das Rad nach Radevormwald zu bringen. Erst um 20 Uhr werde ich wieder auf die Strecke gehen können.

Im Fahrerlager wartend, wird mir aber keinesfalls langweilig. Im Zelt unseres 6´er Teams herrscht seit Stunden rege Partystimmung. Wer nicht grade fährt, der feiert.
Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Aber was da aus dem mitgebrachten Lautsprecher dröhnt, grenzt an akkustische Vergewaltigung. Von Mitklatsch-Schlagern über Biene Maja bis zu Helge Schneiders Katzenklo ist wohl so ziemlich jeder Schund dabei. Die Musik ist so schlecht, dass es schon wieder geil ist.

Davon bekommen unsere 3 Solofahrer wohl nur sehr wenig mit. Während ich Marc immer nur fröhlich winkend vorbeifahren aber nie anhalten sehe, hat Michael Runde um Runde mit technischen Problemen zu kämpfen und wohl keine Lust bei Biene Maja mitzusingen. Vielleicht ist er auch einfach nur nicht textsicher...ich hätte ihn ja mal fragen können. Aber auf der Strecke schlägt er sich wacker.

Sven hingegen fährt extrem konzentriert. Er ist ohnehin der Typ "Elitesoldat". Alles perfekt organisiert, alles parat gelegt und für jede Eventualität vorbereitet. Aufrechter Gang, grader Rücken, ein fokusierender, wenn auch nicht bohrender Blick und sehnige Gliedmaße und Gesichtszüge. Er ist einer dieser Typen, der etwas ausstrahlt. Wenn er spricht, hören andere unweigerlich auf zu sprechen und lauschen seinen Worten. Einer dieser Typen, die ein Raunen verursachen, sobald sie die Kneipe betreten. Wobei Sven so fit wirkt, dass Kneipenbesuche vermutlich eher die Ausnahme sein dürften.

Sven wirft Lebensgefährtin Jeanette bei jeder Runde ein paar knappe Worte zu - jeder Handgriff sitzt. Wie einstudiert. Sie reicht im Gels, Riegel, Flaschen oder Kleidung zu. Sie ölt die Kette, hält das Rad, tröstet, motiviert, oder gibt Küßchen - und weiß immer genau, was dem Sven grad fehlt. Stets hat sie dabei ein entzückendes Lächeln auf den Lippen. Nie wirkt sie angespannt, gestresst oder genervt. Und wenn Sven wieder auf der Strecke ist, macht sie das Gleiche mit allen anderen Fahrern. Nur die Küßchen, die lässt sie zu unser aller Bedauern leider weg. :)

Es ist ein Fulltimejob, den Jeanette hier erledigt. Sie wird die kompletten 24 Stunden auf den Beinen sein und ununterbrochen umherwuseln, um sich den Wehwehchen und Bedürnissen von mehr als einem Dutzend verdreckten, verschwitzen und stinkenden Mountainbikern anzunehmen. Ich habe keine Ahnung warum sie das macht, aber sie macht es toll. Das dieses Rennwochenende so problemlos und komplikationsfrei ablief, verdanken wir wohl in erster Linie Jeanette...


...und der Mama vom Marco. Die hat nämlich das Ersatzrad inzwischen geliefert.

Meine Rundenzeit liegen fortan konstant - mit durchschnittlich 19 Minuten nicht besonders gut, aber konstant.
Das können zum Glück die schnelleren Fahrer gut kompensieren. Bei Einbruch der Nacht liegen wir dann auf Platz 3. Nach oben wie nach unten sind bereits 3 Runden Abstand. Die beiden erstplatzierten Teams werden wir mit unseren vier Mann aus der zweiten Garnision nicht mehr einholen können.
Aber Platz 3 wäre ein gutes Ergebnis. Unter den gegebenen Umständen allemal.

Doch noch ist das Ding nicht in trockenen Tüchern. Wir schielen auf die Rundenzeiten vom Team Jungdruck auf Platz 4. Die haben laut Rundenzeiten mit Colja Hübschmann und Lars Elbracht eigentlich nur zwei gute Fahrer im Team.
Ob der Hübschmann wirklich so hübsch ist, weiß ich nicht. Aber schnell ist er. Er fährt Doppelrunden mit knapp 16 Minuten. Elbracht immer eine im Anschluss und ist nur unwesendlich langsamer.
Der Rest der Truppe fährt dann eher auf meinem Niveau.

Mit drei Runden Vorsprung könnten wir das Ding nach Hause fahren. Schließlich muss auch der hübscheste Hübschmann irgendwann der Belastung Tribut zollen und in seiner Leistung einbrechen - so jedenfalls meine Hoffnung.
Aber die Nacht steht an. Und es wäre nicht das erste Rennen, in dem die Nacht nochmal eine entscheidende Wende oder gar die Entscheidung bringt. Zumal dem Team Jungdruck auch Radsport Nagel dicht auf den Fersen sitzt. Die verkaufen sich an diesem Wochenende auch recht gut.

Und tatsächlich minimiert sich der Vorsprung in der Nacht immerhin um eine Runde. Unsere eingelegte Doppelrunde macht uns alle etwas langsamer. Jeder büßt in etwa ein bis zwei Minuten pro Runde ein. Die zwischenzeitliche Ergebnisliste lügt nicht. Der Vorteil aber liegt in den sich aus der Doppelrunde ergebenden längeren Regenerationsphasen. Am Morgen starten unsere Fahrer deutlich erholt und bauen den Vorsprung kontinuierlich weiter aus. Taktisch hat Team-Captain David also alles richtig gemacht.


Gegen 10:20 Uhr gehe ich wieder auf die Strecke.
Es ist meine letzte Runde. Eine schnelle sollte es werden. "Hau nochmal richtig einen raus", hatte David angewiesen und somit an seiner Erwartungshaltung nicht den Hauch von Zweifel gelassen.
Aber ich hau hier gar nichts mehr raus. Ich muss aufpassen, dass es mich nicht vom Bike haut.
In den Abfahrten sind inzwischen so tiefe Fahrspuren, man könnte meinen Skydiving im Grand Canon zu betreiben - mir allerdings fehlt der Fallschirm.

Auch hat die Verschiebung der tektonischen Platten (in Radevormwald kommt dieses Naturphänomen bekanntermaßen ähnlich der Meeresgezeiten mehrmals täglich vor - und zwar immer wenn ich grad auf der Strecke bin) die Anstiege deutlich steiler werden lassen. Der Mythen umrangte Schweineberg wurde ebenfalls inzwischen um mindestens zehn Meter aufgeschüttet. Mit mir kann man´s ja machen, gelle?

War die Strecke in der Nacht bereits stark ausgefahren und die Wurzelfelder durch die Feuchtigkeit russisches Roulette mit halb geladener Trommel, gleicht sie am frühen Vormittag einer Kraterlandschaft. Die nackten Wurzeln ragen aus dem Erdreich und wirken im grellen Sonnenlicht wie skelettierte Arme von Untoten die sich aus ihren Gräbern schälen um nach den Laufrädern zu greifen.
Einem wilden Rodeogaul gleich, bockt das Bike unter mir und der harte Carbonsattel verhaut mir gehörig den Hintern. Und für dieses Erlebnis - ohne entsprechenden Fetisch übrigens nur bedingt zu empfehlen -  habe ich jetzt tatsächlich Geld bezahlt?
Also hör mal... Bezahlen und Po versohlen lassen hätte ich auch zu Haus in Hamburg haben können. Wir haben schließlich die Reeperbahn. Andererseits können dort 24 Stunden recht schnell sehr teuer werden.... hab ich mal gehört.

Der letzte Anstieg am Schweineberg tut fies weh. Ich habe keinen Laktatüberschuss in den Oberschenkeln, es kommt eher einer Laktatkernspaltung mit einhergehender Kettenreaktion gleich. Es ist eine inzwischen unkontrolierbare und nicht mehr aufzuhaltende Katastrophe -  das muskuläre Fukushima steht unmittelbar bevor.
Ich könnte ausklicken und ein paar Meter schieben. Es sind keine Zuschauer da... würd gar keiner merken. Schiebend wär ich vermutlich inzwischen sogar schneller, oder?
Aber wenn mich doch wer sieht? Irgendein Schmierpaparazzi von der Sportbild womöglich.
Ich sehe schon die Headline "Mountainbike Lucky Luke in Radevormwald",
darunter ein Foto von mir mit der Bildunterschrift "er steigt schneller ab als sein Schatten"....

Auch wenn so Gestalten wie Küblböck ihre Bekanntheit und damit auch ihren Reichtum ausschließlich der Tatsache verdanken, sich vor aller Welt lächerlich gemacht zu haben, lege ich auf solch zweifelhaften Ruhm wenig Wert.
Und wie stünde ich denn gleich da? Als Mit-Drittplatzierter auf dem Treppchen und in Wahrheit am Schweineberg gekniffen? Also noch ein paar Meter beißen. Noch einmal durch den Zielbogen fahren und mit dem wartenden Julian abklatschen.

Und absteigen kann ich danach ja schließlich immer noch...









 







 







































Kommentare

  1. Michael Peyinghaus17. August 2021 um 10:29

    Ich wollte eigentlich am Wochenende mal rum kommen und sagen dass ich mich jetzt schon auf den Rennbericht vor dir freue, das war mir aber irgendwie dann doch zu anbiedernd. Aber die Vorfreude hat sich gelohnt, das macht großen Spaß zu lesen!

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    1. Hallo Michael. Entschuldige die sehr späte Antwort - ich habe deinen Kommentar tatsächlich eben erst gesehen.
      Ich hätte es nicht als anbiedernd empfunden, sondern mich vielmehr sehr drüber gefreut - bei nächsten mal einfach machen!
      Freuen tu ich mich allerdings auch über dein Lob an dieser Stelle!
      "Applaus ist das Salz in der Suppe des Artisten", sagt das fahrende Volk der Zirkusleute.... und das trifft auch auf den immer etwas tolpatschigen "dummen August" unter den Hobbyfahrern im Rennzirkus zu!

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